Bei Sushma

Es ist schön in Sushmas Zimmer, eine grosse Ruhe ist dort, alles hat seine Ordnung, seinen Platz, seinen Ablauf. Halt ist dort, und Sicherheit. Eine Aura der Spiritualität liegt über allen Dingen. Zugleich die Ahnung einer Monotonie im Leben der Nachbarinnen, und von Enge, Kehrseite des sozialen Aufgehobenseins. Die Nachbarinnen betreten das Zimmer jederzeit unangemeldet, und ohne Begleitung ein paar Stunden zu verbringen, erweist sich als schwer.

Fasziniert darf ich zuschauen, wie Sushma in dem schönen, über ihrem Bett in die Wand eingelassenen Schränkchen ihre tägliche Puja zelebriert. In die Schälchen vor der hölzernen Statue, die Shiva, Parvati und Ganesh darstellt, gibt sie gelbe und rote Farbpigmente. Sie mischt diese mit Wasser, bemalt damit die Stirn der Statue und danach ihre eigene Stirn. Dann faltet sie die Hände vor dem Gesicht zum stillen Gebet. Ihre Gesichtszüge wirken konzentriert und entspannt zugleich.

Ich versuche mir vorzustellen, wie sich Sushma innerlich mit dem Göttlichen verbindet. Das Göttliche, das hier so vielfältig ist in Gestalt, Geschlecht, in Herkunft und Ähnlichkeiten mit irdischen Lebewesen. Gottheiten mit Tugenden und mit Schwächen werden angerufen. Ihre Geschichten und Erlebnisse lesen sich oft wie irrwitzige Abenteuer oder surrealistische Literatur. Es sind Gottheiten, die den Menschen in ihrem Wesen auf gewisse Weise bemerkenswert nahe scheinen.

Ein kleines Glöcklein ertönt, das mich in Sushmas Zimmer zurückholt. Sie hat die Hände aus dem Gebet gelöst und entzündet zum Abschluss ein Räucherstäbchen. Fast ist mir, als würde es mir mit seinem Duft eine geheime Botschaft zutragen.

 

Ein paar Erläuterungen zu dieser Erkundung findet ihr hier.

4 Gedanken zu “Bei Sushma

  1. Liebe Ella,
    ein religöses Ritual? Ich bin eigentlich nicht religiös und schon gar nicht katholisch, aber nur in diesen Kirchen gibt es die Möglichkeit eine Kerze anzuzünden. Also zunächst einmal: Kirchen ziehen mich an, ich genieße ihre besondere Atmosphäre von Ruhe und in sich Versenktsein. Also gehe ich, wenn ich Zeit und Gelegenheit jabe, gern hinein. Und dann zünde ich eben eine Kerze an und wünsche mir dabei, dass es meinem Sohn immer gut gehen möge, denn zumeist ist es die Marienstatue, an der diese Kerzenstationen sind. Und diese Mutter rührt mich immer wieder, wenn sie ihren Sohn betrauert oder ihn als kleines Kind an sich drückt, in dem Wissen, was ihn als Schicksal erwartet. Nein, gläubig im kirchlichen Sinne bin ich nicht, aber glauben an eine besondere Verbindung von Menschen untereinander, das tue ich schon.
    Liebe Grüße
    Anne

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  2. Hat dies auf Mia.Nachtschreiberin. rebloggt und kommentierte:
    Liebe Ella,
    herzlichen Dank zuallererst, dass du mit uns dieses Erlebenis und diesen besonderen Moment geteilt hast.
    Ich zähle auch nicht zu den religiösen Menschen in klassischen Sinn, spirtuell aber in jedem Fall und da suche ich mir meine eigenen Rutuale, die ich oft in zufälligen Begegnungen mit Menschen finden, in denen nicht viel passiert, scheinbar, aber in diesem alltäglichen Miteinander findest du, wenn du genau hinhörst, hinsiehst und hinspürst, das Göttlich im anderen … Für mich ist das der Moment, der nach Gold schmeckt, nach einem besondern Glanz und Schimmer, der alles durchleuchtet …
    Und im Moment sind es die täglichen Morgenseiten, die genau davon etwas haben … auch wenn ich es beim ersten Wecken meist noch nicht glauben kann…:-)
    Liebe Grüße,
    Mia

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  3. Liebe Ella,
    mir gefällt bei deiner Beschreibung der Zeremonie besonders, wie du beide Seite beleuchtest: den Halt, der spürbar ist durch Verlässlichkeit, Rituale und Spiritualität. Auf der anderen Seite aber die Monotonie, die Enge, vielleicht sogar ein Gefühl von Unfreiheit? Die negativen Empfindungen treten sicher besonders bei uns westlich zivilisierten Menschen schnell in den Vordergrund, da wir unsere Individualität so sehr pflegen und oft (wie ich) auch die Einsamkeit dringend zur Regeneration brauchen. Ich frage mich, wie/ob Sushma diese negativen Seiten überhaupt wahrnimmt, oder ob sie nicht ganz selbstverständlich, ohne es zu hinterfragen, eingebettet in die sozialen und religiösen Zusammenhänge lebt, in denen sie wahrscheinlich aufgewachsen ist. Oder meinst du, das könnte eine romantische Vorstellung von mir sein? So wie du es beschreibst, beschleicht mich jedenfalls automatisch ein Gefühl leichten Neides — aber vielleicht unterstelle ich aus Unkenntnis und Verklärung, dass Sushma in dieser Welt immer zufrieden ist. schreibst auch beim religiösen Ritual wieder von einer Welt in der Welt.
    Du schreibst in der Reflexion zu dieser Erkundung wieder, wie ja schon zuvor, vom Schaffen einer „Welt innerhalb der Welt“. In diesem Fall des religiösen Rituals finde ich das insofern problematisch, als viele Gläubige und spirituelle Menschen, die materielle Welt mit ihren (teilweise ja sehr absurden) Gesetzmäßigkeiten als weniger real betrachten als die spirituelle Welt.
    Ich persönlich versuche vermehrt (wieder) Rituale in meinen Alltag zu integrieren; sie basieren zumeist auf heidnischen Bräuchen und Traditionen, und aus Erfahrung kann ich berichten, dass vor allem, wenn man diese Rituale in einer Gruppe vollzieht, die scheinbar (?) reale (?) Welt vor der Haustür tatsächlich sehr fragwürdig wird 😉
    Hab vielen Dank für deine wieder so interessanten Ein- und Ansichten, die mir erneut einige Denkantöße gegeben haben 🙂
    Deine Fe.

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  4. Meine lieben Kommentatorinnen,

    herzlichen Dank für Eure so spannenden und lieben Kommentare, die mich ungemein gefreut haben, auch wenn ich erst jetzt darauf reagiere…

    Auch ich würde mich selbst zwar nicht als religiösen, spirituell aber auch nicht uninteressierten Menschen bezeichnen. Verbindungen von Menschen unter- und Begegnungen miteinander, die Kerze mit ihrer Kraft, die Morgenseiten, Bräuche und Traditionen in Gruppen… Ich danke Euch sehr für diese Einblicke in Eure ganz persönlichen Momente der Spiritutalität, in denen ich mich (ausser in den Morgenseiten, als Langschläferin zumindest noch ;-)) auch selbst stark wiederfinde.

    „Das Göttliche im anderen“, liebe Mia, hat mich in Deiner Antwort besonders angezupft. Wahrscheinlich ist Dir schon bekannt, dass das Wort „Namaste“ (aus dem Sanskrit bzw. Hindi/Nepali) „Ich grüsse das Göttliche in Dir“ bedeutet?

    Deine gemischten Gefühle, liebe Fe, kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich habe sie selber beim Aufenthalt bei Sushma erlebt. Was die ebenfalls verständlichen Empfindungen von Neid angeht, so deuten allerdings meine Erinnerungen an die Begegnung mit Sushma darauf hin, dass sie durchaus nicht mit allem in ihrem Leben zufrieden war bzw. ist und einige Träume und Sehnsüchte hat(te).

    Auch die Gefahren einer sehr ausgeprägten, strikten Religiosität und der damit verbundenen „gepachteten Deutungshoheit“ sprichst Du in Deiner Reflexion an. Ja, das macht mir auch immer wieder Angst und ist heute ja leider aktueller denn je…

    Ganz lieben Dank Euch allen und herzliche Grüsse

    Eliane

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